Neue Medien Architektur
1967
NEUE MEDIEN DER ARCHITEKTUR
Fragmentarische Anmerkungen zu neuen Entwicklungen und Möglichkeiten
(1967)
Der Mensch schafft künstlich Zustände. Dies ist Architektur. Physisch und psy-chisch wiederholt, transformiert, erweitert er seinen physischen und psychischen Bereich, bestimmt er "Umwelt" im weitesten Sinne.
Seinen Bedürfnissen und seinen Wünschen gemäß setzt er Mittel ein, diese Be-dürfnisse zu befriedigen und diese Wünsche und Träume zu erfüllen.
Er erweitert sich selbst und seinen Körper.
Er teilt sich mit.
Architektur ist ein Medium der Kommunikation.
Der Mensch ist beides - selbstzentriertes Individuum und Teil der Menschheit. Dies bestimmt sein Verhalten. Aus dem Paradies von einem zornigen Gott versto-ßen, ist er dabei, sich sein eigenes Paradies zu schaffen.
Von einem primitiven Wesen hat er sich selbst mittels Medien kontinuierlich er-weitert, seinerseits diese Medien kontinuierlich erweiternd.
Der Mensch hat ein Gehirn. Seine Sinne sind die Grundlage zur Wahrnehmung der Umwelt. Medien der Definition, der Festlegung einer (jeweils gewünschten) Um-welt beruhen auf der Verlängerung dieser Sinne.
Dies sind die Medien der Architektur.
Architektur im weitesten Sinne.
Architektur ist eine der drei Künste. Sie wird an Hochschulen und Akademien ge-lehrt.
Architekt: ein Absolvent solcher Schulen. Jemand der Architektur macht.
Einige Architekten (wie sie mir so gerade einfallen):
Paco Rabanne
Belaunde Terry
Simon Wiesenthal
Courreges
Sergej Eisenstein
Matta
Russel L. Ackoff
Luis Trenker
Albert Speer
Architekten (Zeitungsberichten entnommen):
Architekt des Wirtschaftswunders Erhard
Architekt des neuen Israel Ben Gurion
Architekt des Staatsvertrages Julius Raab
Architekt dieser Frisur war Alexandre
archi-tekton: oberster Arbeiter.
Jahrtausende erfolgte künstliche Veränderung und Bestimmung der Umwelt pri-mär durch bauen, wie auch das Bauwerk wesentlichste Manifestation und Expres-sion war. Bauen war verstanden als Kreation eines dreidimensionalen Gebildes, das den Erfordernissen als Definition des Raumes, als schützende Umhüllung, als Gerät und Werkzeug, als psychisches Mittel und als Symbol entsprach. Die Ent-wicklung der Wissenschaft und Technologie, wie auch der Gesellschaft und ihrer Bedürfnisse und Forderungen hat uns mit ganz anderen Gegebenheiten konfron-tiert. Architektur und Bauwerk stehen in neuer Beziehung zueinander, wie eben auch Umweltbestimmung und Bauen sich in anderer - und eingeschränkter - Ab-hängigkeit von einander befinden. Andere und neue Medien der Umweltbestim-mung entstanden.
Sind dies zuerst vielfach nur technologische Verbesserungen herkömmlicher Prin-zipien und Erweiterungen der physischen "Bau-Materialien" durch neue Materia-lien und Methoden, so werden darüber hinaus etwas nichtstoffliche Mittel zur Raumbestimmung entwickelt. (Licht etwa in Form des Laser beim Holograph.) Doch ist auch in verschiedenster Weise ein Einbruch neuer Medien in Bereiche festzustellen, die traditionellerweise für die Lösung eines Problems das "Bauen" und das "Bauwerk" einsetzten.
Ganz offensichtlich fällt es niemanden mehr ein, Abflusskanäle zu mauern, astro-nomische Geräte aus Stein zu errichten (Jaipur) oder defensive Stadtmauern und Türme zu bauen. Viel weitergehend jedoch sind die Konsequenzen, die etwa die neuen Medien der Kommunikation (sei es Telephon, Radio, Fernsehen u. a. ) mit sich bringen, und es wird so ein Begriff wie der des Lehr- und Lerngebäudes (Schu-le) unter Umständen ganz verschwinden und durch diese Mittel ersetzt werden.
Frühe Beispiele der Extensionen der Architektur durch Kommunikationsmedien sind Telephonzellen - ein Gebäude minimaler Größe, doch eine globale Umwelt direkt einschließend. Umwelten dieser Art in noch engerem Bezug zum Körper und noch konzentrierterer Form liefern auch zum Beispiel die Helme der Düsenpiloten, die durch ihre telekommunikatorischen Anschlüsse die Sinne und Sinnesorgane erweitern, als auch weite Bereiche mit ihnen direkt in Beziehung bringen. Einer Synthese entgegen und zu extremen Formulierungen des Standortes einer heuti-gen "Architektur" führt schließlich die Entwicklung der Raumkapseln und insbe-sondere des Raumanzuges. Hier wird eine "Behausung" geschaffen, die weitaus perfekter als jedes "Gebäude" außerdem noch eine umfassende Kontrolle der Kör-perwärme, der Nahrungszufuhr und Fäkalienverwertung, des Wohlbefindens und dergleichen in extremsten Umständen bietet, verbunden mit einem Maximum an Mobilität.
Diese weitentwickelten physischen Möglichkeiten leiten dazu über, psychische Möglichkeiten einer künstlichen Umwelt verstärkt ins Auge zu fassen, da nach Wegfall der Notwendigkeit gebauter Umwelten (etwa als Umhüllung, Klimaschutz und Raumdefinition) ganz neue Freiheiten erahnt werden. Der Mensch wird nun echt Mittelpunkt und Ausgangspunkt der Umweltbestimmung sein, da Einschrän-kungen durch eine geringe Zahl vorgegebener Möglichkeiten nicht mehr zutreffen.
Architektur und Städtebau im traditionellen Sinne haben sich zudem vorzugsweise Fortschritte der Technologie, der Physik, aktiv zunutze gemacht und sich anderer Wissenschaften (etwa Soziologie, Medizin) eher passiv, als Mittel der Analyse oder zur Feststellung von Situationen und Tatsachen, bedient. Immer mehr aber werden Disziplinen wie Medizin, Biologie und Chemie aktiv zur Umweltplanung eingesetzt werden müssen.
Als rohe Arbeitshypothese könnte man folgende Bereiche der Architektur postulie-ren:
Gebaute Architektur
Physikalische Architektur
Nonphysikalische Architektur
Gebaute und physikalische Architektur wird, da nun im Gegensatz zu den wenigen und beschränkten Mitteln vergangener Epochen eine Vielzahl solcher zur Verfü-gung steht, sich intensiv mit Raumqualitäten und der Befriedigung psychologi-scher und physiologischer Bedürfnisse beschäftigen können und einen anderen Bezug zum Prozeß der "Errichtung" einnehmen. Räume werden deshalb weit be-wusster etwa haptische, optische und akustische Qualitäten besitzen, Informati-onseffekte beinhalten, wie auch sentimentalen Bedürfnissen direkt entsprechen können. Von traditionellen Mitteln in neuen Zusammenhängen, etwa über zug- und pneumatische Konstruktionen bis zur gezielten Verwendung der Elektronik und des Lichts, wird alles eingesetzt werden.
Nonphysikalische Umweltplanung und Umweltschaffung wird in verschiedenster Weise durchgeführt. Wenn Wohlbefinden und "Glück" des Individuums als eines der erstrebten Ziele angesehen werden darf, so ist eine der ältesten und einfachs-ten Manifestationen einer Schaffung solch einer künstlichen Umwelt der Orgas-mus, wie es auch der Traum ist. Andere seit Jahrtausenden angewendete Mittel sind etwa Tanz, Trance und verschiedenste Formen der Berauschung und Intoxi-kation, alles Medien, die Umwelt verändern, erweitern oder neu erzeugen und viel-fach in diesem Sinne auch bewusst angewendet werden.
Gezieltere physikalische, chemische, biologische und physiologische Mittel der Kontrolle der Körperwärme, der Behaglichkeit und der Schaffung artifizieller har-monischer Umwelterlebnisse müssen jedoch eingesetzt werden. Wird es nieman-den einfallen, unter Kopfschmerzen zu leiden, wenn er Aspirin zur Hand hat, so ist es bei anderen Umweltdefekten üblich, vergeblich auf die Lösung dieser Probleme durch Bautätigkeit zu warten, obzwar oft jede Rechnung ergibt, dass diese und die nächsten Generationen kaum eine Verbesserung erleben werden.
Simulation eines Zustandes kann oft gleichwertig für den Zustand selbst stehen.
(Die empfängnisverhütende Pille als allerdings passives Medium einer Umweltpla-nung ist eines der wenigen Beispiele einer Ausnahme.)
Sollen nicht Millionen Menschen von Menschen im Elend leben, so müssen andere Wege beschritten werden.
Die Unabhängigkeit von der gebauten Umwelt als auch die Möglichkeit, jeden der Sinne, Körperteile und Körperfunktionen entsprechend zu erweitern, wird zu künstlichen Umwelten führen, die weit über den heutigen Umweltbegriff - der von einer gebauten Umwelt geprägt ist - hinausführen.
NEUE MEDIEN DER ARCHITEKTUR (1967)
Fragmentarische Anmerkungen zu neuen Entwicklungen und Möglichkeiten
Wort und Wahrheit 2 (März/April), Wien 1968
Wichtiges Forum der jungen österreichischen Architekturszene war in den Sechziger Jahren die Galerie St. Stephan in Wien unter der Leitung des katholischen Geistli-chen Montsignore Otto Mauer. Folgender Brief Mauers wurde im Anhang zu Holleins Artikel "Neue Medien der Architektur" abgedruckt:
Lieber Herr Hollein!
Sie gestatten mir doch einige, noch fragmentarischere, Anmerkungen zu Ihren "fragmentarischen Anmerkungen" über Architektur?
Der Mensch hat von Anfang an (Hominisation) sein "Paradies" zerstört (den Zustand der Freundschaft mit Gott und den Menschen); er sah sich deshalb nackt auf harter, dorniger Erde. Der Mensch baute "Babel", die Stadt, den Inbegriff seiner Triumphe, mit der hybriden Geste des Trotzes, seine Umwelt und Zustandswelt, sein Ambiente. Wozu aber die Geste? Der Schöpfer sieht im Menschen, seinem Menschen, keine Konkurrenz: "Wachst, mehrt euch, erfüllt die Erde, macht sie euch untertan." Der Schöpfer will den Mitschöpfer Mensch als Vollender des Kosmos, nichts steht dem Menschen moralisch im Wege, sich sein Paradies zu schaffen; allerdings ist sein Pa-radies (die Liebe und deren Seligkeit) weder auf einem physischen Ambiente (und seinem Effekt auf die menschliche Physis und Psyche) noch auf dem Weg der "Into-xikation" zu erreichen. Das himmlische "Jerusalem" ist auch eine Stadt; (die Gegen-stadt zu Babel), eine "Architektur" ein Zustand, in dem Gott "alles in allem" ist. Aller-dings ein Zustand, den der Mensch nicht manipulieren kann, die Gnade schlechthin, nur im Gebet anzurufen ("maranatha!").
Aber zurück zu den Verhältnissen unserer Gesellschaft: Architektur als absichtloses Kunstwerk, als "Bild" und Symbol ist ein Verweis auf andere denn physische, soziale Realitäten, transzendiert sich in seiner Bedeutung. Architektur als instrumentales Ambiente zur Erzeugung bestimmter somatischer und psychischer Zustände muß (wie jedes Instrument) nach seinem Zweck befragt werden. A. Hitler war "Architekt" des Dritten Reiches, aber auch (durch Subarchitekten) der Parteitagsgeländebauten und der Konzentrationslagerarchitekturen, des höllischen Environment von Millionen Gequälter. Architektur ist offenbar mit Paradies nicht identisch. So bedarf es also der Versetzung (Sozial - oder Selbstversetzung) der Menschen in einen Zustand, der es verhindert, dass er Gefängnis-, Vermassungs-, Folterkammer-, Troglodyten- und Angstarchitekturen schaffe. Das wäre die Moral-Pille; eine Injektion von Menschlich-keit. Sie haben recht: alles ist "Architektur" (wenn auch nicht Bau), was das Subjekt in seinen Glückszustand versetzt. Aber: welche Pille wird den Menschen in jenen Zustand der Humanität versetzten, der es verhindert, das der Mensch den Menschen vorsätzlich oder fahrlässig in den Zustand der Qual versetzt, die ausweglose "Archi-tektur" des Schreckens errichtet?
Und weiter: welche Intoxikation wir die personalen Beziehungen unter Menschen regeln? Die "Architektur" der Sozial- und Wirtschaftsgesetze, gewiß: das Ambiente der Stadt- und Landesplanungen; Ehegesetze, Familienpolitik. Wie aber wird der Mensch in seiner Freiheit - und die wollen wir ihm doch mit "Pillen" nicht aberziehen! - funktionieren? Liegt das "Glück" des Menschen nur, primär, in seinem Ambiente, oder nicht vielmehr in seiner Freiheit, in ihm selbst? Zerstört der Mensch nicht seine Architekturen, legt Städte in Trümmer, verwüstet Länder zu verbrannter Erde, Sym-bol für die Kraft, die sich Umwelt, ja Glückswelt, schafft, aber ebenso wieder zer-stört? So ist die Frage nach der "Architektur", der Umwelt (in der Mensch als Objekt betrachtet wird) nicht ablösbar von der Frage nach dem Menschen als Subjekt, das die Glücks- oder Unheilswelt seinen Lebensarchitektur selbst setzt. Totale Architek-tur wäre totale Gesellschaft im totalen Staat, Zwangsglück für die vielen, die aller-meisten, die dann nur Objekt sind, manipuliertes Objekt.
Und endlich: es ist schrecklich zu wissen, dass jenes objektive rettende Ambiente, das subjektiv Glück, ja wenigstens Aufhebung von Angst und Qual bedeuten könnte, für Hunderte von Millionen zu spät kommt. Sie werden den rettenden "Zustand" nicht erleben ( wie jene hungernden Massen in Indien). Gewiß: hier bieten sich Palliative an: Simulationen des Heilzustandes. Gewiß: wer wird dem aussichtslos Kranken sei-nen Schmerzzustand nicht erleichtern wollen? Soll also den Verhungernden "Eutha-nasie" (das alte Rezept!) geboten werden? Anästhesie ist moralisch; aber sie schützt vor dem Tod nicht, wie die Droge, die Berauschung, nicht vor dem Schmerz schützt, gekränkt, beleidigt oder verlassen worden zu sein. Die anästhetische (stoische) Be-einflussung des Menschen zur Apathie ist keine Lösung, auch nicht die Glückspille zur Erzeugung der "künstlichen Paradiese" (die so alt sind wie der sich reflektieren-de, manipulierende Mensch selbst). Das Subjekt kann nie so in seiner Empfangsap-paratur präpariert werden, dass er von der objektiven Schicksalsmacht des Unheils geschützt werden kann, das es Unheil in Glückempfindung umzumünzen vermöchte. Allerdings: es selbst, das Subjekt Mensch, vermag dem Schicksal, dem Ambiente Unheil, Sinn zu geben (nichts gegen Anästhesie!), vermag den unvermeidlichen Schmerz, den unvermeidbaren Tod sinngebend zu verwandeln. Hier ist der Ort von Glaube und Hoffnung. Aber auch der ort der engagierten, selbstvergessenen Menschlichkeit, die wenn sie schon nicht alle, jetzt, und ganz, retten kann, jedenfalls ihr Äußerstes (mit dem Effekt der Linderung) tut. Allerdings - diese Menschenliebe dürfte keine "Simulation" sein!
Ihr Otto Mauer