Zurück zur Architektur

1962

Dieser Vortrag ist über Architektur, über die Stadt. Er wird sich nicht mit praktischen Fragen beschäftigen, sondern mit einer Deutung der Bedeutung der Architektur. Eine Bedeutung, die, meiner Ansicht nach, im Begriffe ist, von vielen Architekten vergessen zu werden. Eine Bestimmung, die verloren zu gehen droht durch den Einbruch einer Philosophie, welche Architektur als Formgebung einer materiellen Funktion sieht anstelle als Transformation einer Idee durch Bauen.
Es muß sich daher gegen jene Philosophie wenden, welche seit einigen Jahrzehnten ihren Siegeszug durch die Welt angetreten hat, deshalb mit so großem Erfolg angetreten, weil sie geholfen hat, dem Mittelmäßigen ein Rezept und eine Begründung für die Mittelmäßigkeit seiner Werke zu geben, weil sie den Konformisten willkommenes Werkzeug war, Legitimierung ihrer Tätigkeit. Weil sie rational begründbare Entscheidungen erlaubt und sich der Analyse willig darbietet. Weil sie die unbequeme Welt des Irrationalen aus der Architektur vertrieben hat und Ideen überflüssig macht. Weil sie aus einem Schöpfungsakt mit all seiner Verantwortlichkeit und seinen einsamen Entscheidungen einen Prozeß gemacht hat, der da heißt: Problem formulieren, Problem analysieren, Problem lösen. Weil sie es möglich macht, der Potenz der Einzelpersönlichkeit zu entbehren und den leichten Weg der Sicherheit zu gehen, die ein Team, ein Mehrheitsbeschluß gibt. Es ist die Philosophie, welche heute die internationale sogenannte moderne Architektur, den internationalen Städtebau beherrscht.
Es ist die Philosophie, welche in einem Großteil der Architekturschulen als Evangelium gepredigt wird. Es ist die Philosophie des Design.
Sie bringt Sterilität über die Welt statt Möglichkeit zur Entfaltung der Creativität der Einzelperson.
Sie macht die Metropolis zur Mediocropolis.
Sie ist eine Architektur der Termiten, nicht die freier, denkender, fühlender Menschen.
Diese Termitenhügel sind in der Tat gar keine Architektur. Deshalb müssen wir zu den Wurzeln der Architektur zurückgehen.
Deshalb: Zurück zur Architektur.


Hier nun einige Aspekte zu dem, was ich als Wesen der Architektur sehe:
Was ist Architektur?
Bauen.
Und was ist sie mehr als Bauen?
Sie ist ein geistiges Ereignis.
Sie ist ein sinnliches Ereignis.
Sie ist ein Grundbedürfnis des Menschen.
Sie ist Bauen um zu Bauen, abstraktes Bauen.
Architektur ist eine geistige Ordnung, verwirklicht durch Bauen.
Architektur, ein Zeichen des Übersinnlichen, emporwachsend aus der Erde, eine Idee, hineingebaut in den unendlichen Raum, die geistige Kraft des Menschen manifestierend, materielle Gestalt seiner Bestimmung, seines Lebens.

Ursprung der Architektur.
Der Ursprung der Architektur ist sakral.
Das Bedürfnis des Menschen zu bauen manifestiert sich zuerst in der Errichtung von Gebilden sakraler Bestimmung, magischer, sakral– sexueller Bedeutung.
Der erste Pfahl, ein Steinhaufen, ein aus dem Fels gehauener Opferblock sind die ersten Gebilde, menschengemachte Gebilde mit einer spirituellen Bedeutung, Bestimmung, sind Architektur. Ihre Funktion ist eine rein geistige, magische. Materielle Funktionen haben sie nicht.
Sie sind reine Architektur, zwecklos.

Architektur, das Bedürfnis des Menschen, materielle Gebilde zu schaffen, die eine imaterielle Bedeutung, eine transzendente Bedeutung haben, die über ihre Verwendbarkeit, ihre Bestimmung hinausgeht, eine geistige Ordnung repräsentiert, diese Architektur ist in ihrem Wesen nicht den Entwicklungen der Zivilisation, dem materiellen Fortschritt unterworfen, sondern nur der Entwicklung des Menschen an sich, seiner Kultur, seiner geistigen Potenz.
Sie ist die menschverbundenste, die menschlichste Kunst. Sie ist elementar, sinnlich, primitiv, brutal und archaisch und zugleich Ausdruck der subtilsten Gefühle des Menschen, Materialisation seines Geistes.
Sie ist ein Ausdruck des Menschen selbst.
Fleisch und Geist zugleich.
So gesehen ist Architektur im wahrsten Sinne erotisch.

Zweck und Architektur.
Architektur ist ohne Zweck.
Zwecklos im Sinne einer vorherbestimmten materiellen Verbindung. Die Gestalt entwickelt sich nicht aus materiellen Bedingungen eines Zweckes, sondern aus dem Wesen des Zweckes selbst, aus seiner spirituellen Bedeutung, aus dem Sinn der physischen Realität.
Spiritualisation des Materiellen führt zur Materialisation des Spirituellen.
Es gibt daher keine funktionelle oder funktionalistische Architektur. Es gibt daher keine konstruktive, strukturelle Architektur. Ein Bauwerk soll nicht seine Benützungsweise ausdrücken, soll nicht sein eine Expression seiner Struktur, Konstruktion, soll nicht Umhüllung oder Zuflucht sein.
Ein Bauwerk soll sich selbst sein. Ein Bauwerk will ein Bauwerk sein. Ein Bauwerk soll zeigen, was es bedeutet. Wenn ein Bauwerk schon irgendetwas ausdrücken muß, dann Bauen. Was wir bauen, sind Räume, Gebilde, die sich ihre Bestimmung suchen, die entdeckt werden und ihre Verwendung finden.
Nicht «Form follows Function».
Nicht «Function follows Form».
Sondern Form als Funktion, Form ruft Funktion hervor. Form ist ein integraler Teil des geistigen Inhalts, der Bestimmung eines Gebäudes.
Form entsteht nicht von selbst.
Es ist die Entscheidung des Menschen, ein Gebäude als Würfel, als Pyramide oder als Kuppel zu machen.
Also Form um der Form willen?
In der Architektur kann es keine Form um der Form willen geben. Architektur ist gebaut. Die Technik des Bauens und die Gesetze der Statik können nicht negiert werden. Form in der Architektur ist gebaute Form.

Wie unterscheidet sich nun Architektur von Skulptur? Zwar sind meiner Meinung nach die klassischen Unterscheidungen der Künste nicht mehr gültig, da sie ineinander aufgehen werden. Sie werden zu Gebilden werden, die die Welt und das Leben der Menschen bestimmen und in denen sie nach Ermessen und Wunsch leben werden. Sie werden eine neue, durch den menschlichen Geist, durch die überragende Technologie des Menschen geschaffene, eine menschengemachte Welt. Sie werden in gewissem Sinn eine neue, menschengemachte Natur. Der Mensch ist endlich Herr der Natur. Doch trotzdem:
Architektur und Skulptur.
Architektur ist gebaut. Die Mittel der Architektur sind die Mittel des Bauens. Skulptur ist Form. Obzwar manchmal auch gebaut.
Architektur ist als einzelnes Teil des totalen Raumes. Skulptur ist als einzelnes nur sich selbst.
Architektur kann Ornamente haben, Skulptur nicht.
Form, Raum gebaut: Architektur: die Pyramide von Gizeh.
Form, Raum gebaut, Skulptur: die Freiheitsstatue.
Form, Raum gebildet: Architektur: ein Grabstein etwa.
Form, Raum gebildet: Skulptur: etwa ein Werk Malewitschs.
Eine andere Gegenüberstellung:
das sphärische Haus Ledoux und ein sphärischer Behälter in einer Ölraffinerie. Beides gebaut.
Das eine Ausdruck einer Idee, ein geistiges Produkt.
Das andere ein Produkt optimalen Zwecks.
Beides Architektur, doch der Moment der Creation, der Moment der Spiritualisation steht bei dem einen am Beginn, beim anderen am Ende.

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Ist auch Architektur eine Creation des Geistes, so ist sie doch materiell. Sie ist nicht nur Idee, sondern auch Gestalt, nicht nur Leere, sondern auch Fülle.
Sie ist da.
Architektur wird vor allem gesehen.
Sie wird aber auch gefühlt, gehört und gerochen.
Sie spricht nicht nur zum Körper, sondern auch zur Seele. Bauten haben selbst eine Seele, eine Persönlichkeit, einen Charakter. Sie haben Stimmungen und Launen.
Und sie altern, verfaulen, verschwinden.
Wir müssen einem Bauwerk sein eigenes Leben lassen. Und wir müssen es auch sterben lassen. Manche sterben schon nach einigen Jahren, manche sind noch nach Jahrtausenden lebendig. Nichts ist grausiger als eine Großmutter, die sich kleidet, gebärdet, schminkt wie eine 17jährige. Doch viele unserer schönsten Bauten fallen diesem traurigen Schicksal anheim. Sie fallen einem kleinbürgerlichen Reinigungstrieb zum Opfer, der alles neu sehen will. Verbrecher sind überall am Werk, die putzen, schaben, kröneln, flicken, rekonstruieren. Sie morden unsere Bauten, unsere Stadt. Sie werden bald unsere wunderschönen grünen Kupferdächer blankputzen. Sie werden nach Athen ziehen und den Parthenon abkratzen und wieder aufbauen, sie werden der Venus von Milo die fehlenden Arme ansetzen.
Der blitzblanke Messinggriff und der blitzblanke Messingknopf, Ideal der Hausmütterchen und Militärs, Ideal derjenigen, die Ordnung nur dort sehen, wo Zwang ist, Schönheit, Poesie aber unfähig sind zu sehen. Und Geist und Herz haben sie schon gar nicht.

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So sieht diese Architektur auch aus. Sie sieht nämlich nie so aus, wie sie aussehen sollte. Und hier sind wir wieder beim Messingknopf. Diese moderne Architektur soll nämlich ewig neu und jung aussehen. Unberührt. Diese Architektur kann gesehen werden, am besten durch den Sucher des Photoapparates. Sie wird wohl kaum gefühlt, gehört und gerochen werden. Eines aber kann sie, sie kann geschleckt werden. Diese Architektur ist aber gar keine Architektur, sie ist «Design».
Die Hierarchie der Räume, der Bestimmungen wurde vernichtet. Was übrig blieb, ist Formgebung. Was übrig blieb, ist die Gleichförmigkeit, Mittelmäßigkeit, Langeweile.
An Stelle von Persönlichkeit und Charakter hat diese Architektur höchstens Tugenden.
Diese Architektur bezieht ihre Gestalt von einer Ästhetik bezogen von Typen von Bauwerken, welche seit Beginn der Industrialisierung entstanden. Fabriken, Bahnhöfe, Bürogebäude. Diese Gebäude hatten eine Gestalt, die aus ihrem Wesen, aus ihrem Inneren entstand. Der Irrtum war, aus dieser neuen Formenwelt eine Ästhetik zu machen, zu glauben, jedes Gebäude entspräche, drücke unsere Zeit aus, wenn es nur jene neue Formensprache übernehme. Es tut dies sowenig, es ist sowenig modern wie ein Füllhalter oder ein Suppenlöffel, der seine Formensprache den Rennautos und Düsenjägern verdankt.
Neue Bauwerke werden ihre Form finden.
Sie brauchen sie nicht oktroyiert bekommen, oktroyiert von Leuten, welche berauscht sind von einer Pseudo–Technik, einer Schein–Zweckmäßigkeit.
Und der Ring hat sich schon geschlossen. Unsere heutigen Fabriken, Lagerhallen und Bahnhöfe sehen aus wie Pseudo–Fabriken, Pseudo–Hallen und Pseudo–Bahnhöfe. Sie wollen sich am eigenen Schopf aus dem Wasser ziehen.
Laßt Fabriken Fabriken sein.
Laßt ein Wohnhaus ein Wohnhaus sein.
Laßt eine Kirche eine Kirche sein.
Laßt die Hände von der modernen Architektur.
Beschäftigt euch dafür einfach mit Architektur.
In Wahrheit sind viele der Ideen der heutigen, der sogenannten modernen Architektur gar keine Ideen geboren aus dem Geist des 20. Jahrhunderts. Sie sind vielmehr Ideen des 19. Jahrhunderts, letzte Ausläufe der Maschinenromantik. Letzte Ausläufer einer Rousseau‘schen Romantik, der Schäferspielchen und Hameaus.
Zum Beispiel: die Gartenstadt. Sie ist weder eine Stadt, noch ist sie Land. In der Gartenstadt wird die Zivilisation des Menschen an die Kühe verfüttert.

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Noch etwas zu Funktionalismus und Strukturialismus zum Ausdruck der Konstruktur, der Funktion, der Struktur.
Nehmen wir die Säugetiere, die Wirbeltiere. Sie sind prinzipiell gleich im Aufbau ihres Knochengerüstes, sind gleich in den Funktionen ihres Körpers. Blutkreislauf, Verdauung, Nervensystem usw. gleichen einander. Funktion.
Doch welche ungeheure Verschiedenartigkeit ist auf diesem Grundgerüst aufgebaut, in Gestalt, Form.
Die gleiche Funktion, Konstruktion, doch einmal haben wir hier eine Kuh, ein Schwein, eine Giraffe und auch den Menschen.
Konstruktion.
Architektur, ein Bauwerk, soll eine Konstruktion ausdrücken. Warum?
Sehen wir uns wieder die Natur an, sehen wir uns den Menschen an. Kaum jemand Ungeschulter wird sofort imstande sein ein weibliches von einem männlichen Skelett zu unterscheiden. Für unsere Betrachtung hier können wir sie als gleich bezeichnen, und auf diesem gleichen Skelett baut sich einmal das Weib und auch der Mann auf. Zwei so ungleiche Erscheinungen, in Funktion, Form und Bestimmung verschieden, jede in sich vollkommen, großartig, jedoch gemeinsam in der Konstruktion.

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Wie muß eine wahre Architektur von heute aussehen?
vierdimensional
gebaut
roh
rauh bis kristallin
schwarz bis weiß, aber nicht schwarz–weiß
über der Erde schwebend
in den Himmel schießend
schief
plastisch
sinnlich
herrschend
schmutzig
in dauernder Verwandlung begriffen
zwecklos und doch verwendbar
geballt
raumstrahlend

ZURÜCK ZUR ARCHITEKTUR (1962)
Vortrag, gehalten am 1. Februar 1962 in der Galerie St. Stephan in Wien
Mit diesem Vortrag stellte Hollein einer breiteren Öffentlichkeit seine Gedanken und Projekte vor. Folge dieses Vortrages war eine Kontaktnahme ähnlich Denkender als auch die lose Kooperation zwischen vor allem Hans Hollein und Walter Pichler, welche im drauffolgenden Jahr in der Ausstellung «Architektur» ihren Niederschlag fand. Der abgedruckte Text umfasst Teile der Einleitung und Schluß dieser Präsentation.